„…, weil in der Herberge kein Platz für sie war“, lautet der Satz, der in ganz einfacher Klarheit das beschreibt, was die Realität vor 2000 Jahren war. Maria und Josef mussten sich nach Bethlehem aufmachen, da eine große Volkszählung im römischen Reich anberaumt worden war. Sie machten sich auf, Maria hochschwanger, und mussten etwas finden, wo sie ihren Sohn gebären konnte. Sie machten sich auf aus ihrem sicheren Zuhause, wo sie für damalige Verhältnisse alles hatten. Mussten dann von Tür zu Tür ziehen, um einen Ort zu finden, wo Maria und Josef die Niederkunft erleben konnten.
Soweit zu den harten Fakten der Weihnachtsgeschichte. Aber da ist doch mehr dahinter, finde ich, und durch eine Methodik der Wildnis- und Erlebnispädagogik ist es mir ganz persönlich sehr nahe geworden. Ich möchte dir einzelne Dinge darstellen, die ich in der Adventszeit durch die Methode des sogenannten „City Bounds“ erfahren habe, und ich möchte Erkenntnisse teilen, die vielleicht eine Bereicherung für dein Leben sind.
City Bound beschäftigt sich im Gegensatz zu klassischen Orten der Wildnispädagogik (Wald, Natur, Flüsse, Seen) mit einem Ort, der für viele Menschen vollkommener Alltag ist: die Stadt. Es leben beispielsweise mehr als 80 % der Menschen in Deutschland in einer Stadt, was natürlicherweise nicht unbedingt heißt, dass diese Menschen auch einen Zugang zur Natur haben. Genau da setzt die Erfahrung des City Bounds an. Es ermöglicht den Menschen, eine existentielle Erfahrung zu machen, die im besten Falle zu einer anderen Sicht auf das Leben und meine eigene Umwelt führt. Der Lerninhalt wird aus der Natur übertragen in das Medium der (Groß-)Stadt und die sozialen Interaktionen und Begegnungen werden als Mittel des Erkenntnisgewinnes genutzt.
Kommen wir zum eigentlichen Göttingen City Bound, durch die Lehrenden vom Institut Wildnis- und Erlebnispädagogik CVJM Kassel vorbereitet durch Vorträge über die eigene Komfortzone, Lernzone, aber auch die Panikzone, die auftreten können bei der Bewältigung der Aufgaben, und durch Impulse zu Verdrängungs- und Bewältigungsstrategien. Mit diesem Wissen sind fünf Gruppen, ausgestattet mit einer Hinfahrtkarte und jeweils selbst gewählten Startbedingungen (kein Geld, Personalausweis, Smartphone und Co.), gestartet von Kassel aus in die Städte Göttingen, Marburg, Gießen, Frankfurt oder Fulda. Meine Gruppe landete in Göttingen und meine drei MitstreiterInnen hatten im Zug dorthin verschiedene Pläne gemacht, wie es Möglichkeiten geben könne, um an Geld, Nahrung und einen Schlafplatz zu gelangen. Denn der Kern der Aufgabe war es, 24 Stunden zu überleben, ohne zu lügen, möglichst nicht von dem Setting City Bound zu erzählen, aber auch keine Hilfe von diakonischen Einrichtungen wie Tafel, Diakonie und Co. in Anspruch zu nehmen, damit nicht Menschen, die wirklich darauf angewiesen sind, durch unseren Bound etwas weggenommen bekommen. Puh, ganz schön viele Hürden und ich bin ehrlich: Nach 30 Minuten war ich schon sehr geschafft und vielleicht auch schon ein erstes Mal am Überlegen, warum ich das Ganze hier überhaupt mache. Die Kälte, kein Essen und Trinken und noch keinerlei Aussicht auf einen angenehmen Schlafplatz sorgten nicht gerade für eine entspannte Haltung. Vielleicht gerade trotzdem ging die 24-h-Challenge los, indem wir uns zur Touristeninformation begaben, um einen ersten Überblick über die Stadt zu erhalten. Dazu gehörte außerdem, dass wir neben unserem Schwerpunkt auf ältere Menschen und ihren Erfahrungen auch verschiedene Punkte in der jeweiligen Stadt erfüllen sollten. Für uns war dies in Göttingen, dass wir eine kostenlose Abendveranstaltung besuchen sollten.
Unser Anliegen teilten wir den zwei Servicekräften an der Theke der Touristeninformation direkt mit und die Frauen informierten uns über ein wunderbares Jazz-Konzert, welches auch nur 26 € pro Karte kosten würde und damit ein absolutes Schnäppchen sei. Wir blickten uns in die Augen und wiesen freundlich darauf hin, dass wir an kostenlosen Veranstaltungen interessiert seien, der Mann neben uns in der Warteschlange lachte lauthals auf und wir gingen nach einem mitleidigen Blick aus der Information heraus. Das war es also, dieses Erfahrungen im urbanen Umfeld sammeln. Uns wurde noch beim Herausgehen hinterhergerufen, es lieber bei kirchlichen Abendveranstaltungen zu versuchen, da diese häufiger kostenlos seien. Es sollte sich als eine Verheißung bewahrheiten.
Mit Menschen ins Gespräch zu kommen, fällt mir sonst nicht schwer und ich mag auch an sich gerne Smalltalk, aber wenn du mit einem oder mehreren bestimmten Zielen Menschen ansprechen musst, nämlich mit der Intention, etwas Geld für die Rückfahrt oder Essen und Wasser von ihnen zu bekommen, wirkt das vorher sonst so unverkrampfte Gespräch sehr peinlich und schambehaftet. Menschen einfach nach Geld zu fragen, wo man im sonstigen Leben nicht darauf angewiesen ist und (größtenteils) unabhängig sein Leben gestalten kann, ist nicht angenehm und weitet auch den persönlichen Blick. Plötzlich werden andere Individuen im Straßenbild, die auch auf Geld von anderen Menschen angewiesen sind, deutlich sichtbar. Obdachlose Menschen, BettlerInnen oder auch StraßenmusikerInnen, die ansonsten im allgemeinen Stadtbild verschwimmen.
Die obdachlose Frau aus dem Iran mit ihrem kleinen Pappschild oder der rumänische Straßenmusikant waren ansonsten bestimmt hunderte oder tausende Male völlig in der Nichtbeachtung der Masse untergegangen, aber jetzt wurden sie mit anderen Augen sichtbar. Fragen kamen in meinen Kopf. „Wie schaffen diese Menschen es zu überleben auf der Straße?“ Ich sprach einen Didgeridoospieler an, an dem ich mehrmals vorbeigeschlichen war, um endlich Mut aufzubauen. „Wie schaffen Sie es, hier auf der Straße zu überleben?“, frage ich ihn.
Er blickt mich mit großen Augen an und sagt frei heraus: „Junge, was soll ich machen? Ich lebe seit 20 Jahren hier und kann auch nicht mehr weg von der Straße. Und jetzt muss ich weiterspielen, sonst habe ich keine Tageseinnahme.“ Ich war baff. Mit was hatte ich gerechnet? Mit einer einfachen Lösung für unser Problem oder einer schnellen Hilfe von einem Experten? Wir liefen weiter durch das sehr kalte Göttingen. Ein Aufwärmen durch bloßes Herumlaufen wurde auch immer schwieriger bei minus vier Grad ohne Essen und Trinken im Bauch und keiner Aussicht auf einen warmen Schlafplatz. Langsam fühlte ich mich wie Kratos und Atreus in der Neuauflage von God of War. Überall umgeben von Kälte und unfreundlichen Menschen, auf sich alleine gestellt nur mit seinem Team, auf das man sich verlassen kann. Wir schlichen in Göttingen umher, mal sprachen wir jemanden an, was für sie oder ihn ein besonderes Weihnachtsfest gewesen war oder warum sie sich auf Weihnachten freuten oder eben nicht. Die Bandbreite der Rückmeldungen belief sich auf ein sehr unfreundliches: „Verpiss dich aus meinem Umfeld!“, oder ein einstündiges Gespräch mit zwei älteren Frauen, die am Ende sehr spendabel waren (20 €) und wahrscheinlich meiner weiblichen Teamkameradin auch einen Schlafplatz angeboten hätten, die aber ablehnte.
Nur zusammen wollten wir uns dieser Aufgabe stellen und den City Bound bewältigen in Göttingen in diesen widrigen, winterlichen Umständen inmitten der Adventszeit. Dazu gehörte auch, dass wir unbedingt in ein Altersheim gehen wollten, um direkt mit älteren Menschen, wie es in unserer Aufgabe vorgesehen war, in Kontakt treten zu können. Schnell war auch eine Seniorenresidenz mit dem schön-adventlichen Namen „Alt-Bethlehem“ gefunden, die nicht unweit der Fußgängerzone gelegen war. Doch leider sollte es zu keiner Begegnung in dieser Residenz kommen. Vor dem Gebäude stellten wir fest, dass ein Eintritt nur möglich war mit einem negativen Coronatest, den man wiederum durchführen konnte mit einem vorhandenen Personalausweis. Zweimal negatives Bingo! Also wiederum kein Glück. Auch erwiesen sich die Möglichkeiten des Geldverdienens als sehr limitiert. Überall wurde nach einem Personalausweis, einer vorherigen Anmeldung (Wie denn? Wir wussten ja nicht, wohin wir geschickt wurden!) gefragt, selbst die dringend benötigten Blutspenden konnten wir ohne Ausweisung nicht geben (Sie hätte uns ja auch selbst geschadet, da wir den ganzen Tag nicht viel gegessen hatten.). Also ging es gefühlt wie bei Asterix und Obelix auf der Suche nach Passierschein A 38 ständig von einem Ort zum nächsten ohne große Gewinne auf der Haben-Seite.
Wir wollten ja wirklich nicht an die mühsam erarbeiteten Euros gehen, da wir dringend Geld brauchten für die Rückfahrt. Nach einer halbstündigen Aufwärmsession in einem großen Kaufhaus in der Bettenabteilung war unsere Laune sehr gering. Abbrechen? Schwarz nach Kassel zurückfahren und reumütig eingestehen, dass wir einfach kein Glück hatten in unserer Mission? Eigentlich nicht der Stil, aber bei diesen Temperaturen und dem Gefühl der ständigen Absagen durchaus eine Überlegung wert. „Ach komm, wir sprechen noch ein paar Menschen an!“, sagte jemand aus unserer Gruppe. „Nun gut“, stimmten die anderen mit ein. Wir sahen eine große Gruppe von jungen Erwachsenen, die freundlich wirkten, in einem Kreis stehen. Wir preschten voran und sprachen sie einfach an. „Oh, klar können wir euch helfen, wenn ihr auf der Suche nach Essen seid.
Ich arbeite ehrenamtlich beim Foodsharing Göttingen und rufe gerne Johan an, der heute das Essen abholt. Seid einfach um 17.00 Uhr bei dem Restaurant Vivari und dort bekommt ihr bestimmt, was übrig ist, ab! Und hier sind ein paar Euro, damit ihr euch etwas zum Trinken kaufen könnt!“ Diese Nachricht euphorisierte uns sehr. Essen, ja, Essen endlich in Sicht. Die halbe Stunde bekommen wir auch noch rum, so dachten wir uns zuversichtlich. Der Magen knurrte uns nun schon bitterlich vom vielen Hin- und Herlaufen und ein Wasser und die Aussicht auf Essen wirkten fast wie ein Aufputschmittel für den ganzen Körper. Die halbe Stunde ging im Schneckentempo vorüber, zu groß war die Freude und Sehnsucht nach etwas Essen. Wir standen dann einfach die letzten Minuten schon vor dem Laden und als ein Transportfahrrad mit einem fetten Foodsharingaufkleber um die Ecke bog, konnten sich manche aus unserer Runde ein kleines Lächeln nicht verkneifen. „Ihr seid die Verrückten, oder?“, wurden wir scherzhaft begrüßt.
Wir nickten nur und gingen mit ihm in den Laden. Dort packte er alles ein, was der Ladenbesitzer ihm schon auf den Tresen gelegt hatte. Alles wirkte sehr vertraut. Und wir waren die Störfaktoren im ganzen System, zumindest kamen wir uns so vor. Betreten schauten wir uns an. Durften wir überhaupt etwas von diesem Essen annehmen oder sollten wir es besser teilen? Johan nahm uns die Entscheidung ab: „Hier, für euch!“, sagte er und drückte uns eine große Tüte voll mit warmen Brötchen und Broten in die Hände. Wir aßen erstmal. Direkt vor dem Laden. Uns war egal, ob jemand uns „gierige Wölfe“ sah. Es ging uns nur um eine Befriedigung des so starken Hungersgefühls und nebenan spielte Paul McCartney „Wonderful Christmas Time“ von der Studenten-WG gegenüber.
Eine wohlige Szene. Nach einem fünfminütigen Stärken drehte sich bei uns gleich wieder das Gedankenkarussell: „Wo können wir heue Nacht schlafen oder wie kriegen wir wenigstens die halbe Nacht ab 0 Uhr herum?“ Durch die Studenten hatten wir erfahren, dass wir immerhin bis zur Mitternachtsstunde in der Uni-Bib bleiben konnten und ab dann hatten wir vor, durch Spaziergänge uns warm zu halten. Keine großartige Aussicht bei zwei kranken Teammitgliedern. Wir gingen missmutig in ein asiatisches Restaurant im Göttinger Carrée, um uns aufzuwärmen und eine Teambesprechung durchzuführen. Ein letztes Aufbäumen um viertel vor sechs noch hinzubekommen und noch Menschen zu finden, bei denen wir schlafen konnten, schien fast unmöglich. Resignation machte sich breit. Kassel schien als Notlösung gar nicht mehr fern.
Eine von uns raffte sich nochmal auf und fragte eine einzelne Frau drei Tische entfernt sitzend aus. Als sie zurückkam, sagte sie uns, dass wir es in einem „linken“ Haus probieren sollten oder in der baptistischen Gemeinde Göttingen, die wären sehr freundlich. Das Haus lag direkt in der Nähe des Carrées, daher probierten wir dort zuerst unser Glück. Unsere Hoffnung wurde sehr schnell gebremst, als nach mehrmaligen Klingeln niemand aufmachte. Eine junge Frau stand auf der anderen Straßenseite, sie fragten wir nach der Gemeinde. Auf dem Weg dorthin wechselten wir nur wenige Worte, kamen an einer Obdachlosenunterkunft vorbei. Gedanken kamen und gingen. Heute Nacht dort schlafen wäre wenigstens nicht kalt und besser als auf der Straße zu schlafen. Wir gingen weiter und unsere Gedanken wurden immer düsterer. „Das wird nichts mehr und wir geben auf!“, als Aussagen kamen nicht nur einmal uns in den Sinn. Plötzlich standen wir vor der Gemeinde, in einem Gebäude wurde ein Livestream für Weihnachten aufgezeichnet.
Da wollte man nicht stören. „Guck mal, da feiern junge Menschen eine Weihnachtsfeier!“, sagte jemand. Wir blickten uns an. Dort klopfen? Sollte man so „frech“ sein und dort klingeln? Sich selbst einladen? „Letzter Versuch, komm, wir wagen es!“, schallte es aus uns heraus. Wir gingen an den großen Fenstern vorbei, jeder konnte uns schon sehen auf dem Weg zur Tür. Wir klingelten. Und dann machte ein Engel auf. Nein, das klingt jetzt übertrieben. Aber es war wirklich so. Eine junge Frau, engelsblonde Haare, mit einem großen, freundlichen Lächeln öffnete uns die Tür: „Kommt rein, Jacken dorthin und Schuhe könnt ihr ausziehen!“ „Halt, halt, wir müssen dir was sagen!“, begannen wir. Und dann erzählten wir von unserem City Bound, was wir am Tag erlebt hatten, über unsere gesundheitlichen und versorgungstechnischen Probleme, wie oft wir abgelehnt worden waren, Beleidigungen erfahren, Essen bekommen, Geld gespendet, Herzlichkeit und Hass erlebt hatten. Und sie antwortete einfach darauf: „Ich frage jetzt fünf Menschen. Wenn die sagen, ihr dürft hier übernachten, dann geht das klar!“ Und alle Menschen sagten „Ja!“
Wir erlebten eine wunderbare Weihnachtsfeier voll Staunen in unseren Gesichtern. Ganz viel Herzlichkeit und Offenheit war an diesem Abend und auch am Morgen hier spürbar. Ehrliche Menschen voll mit Liebe. Am Ende kam es jedem von uns wie ein Traum vor. War das wahr, was wir erlebt hatten?
Am Ende in Kassel bleibt in uns die Frage bestehen: Was verändern wir in unserem Leben danach, nach City Bound, nach all diesen Erlebnissen in der Weihnachtszeit?
Gibt es nur eine Sache, die ich verändern möchte, dann machen doch schon viele Menschen um mich herum in entscheidenden Momenten etwas anders. Dann gehen vielleicht Türen auf und Hände werden gereicht, die dir sagen möchten: „Komm doch rein, zieh die Schuhe aus und trink mit mir einen Tee. Es ist genug da!“
Maximilian Weber-Weigelt ist Nerd, Jugendpfarrer und immer auf der Suche nach neuen Erfahrungen. Dieses Jahr steht bei ihm unter dem Motto: Raus in die Natur. Daher macht er eine Ausbildung zum Wildnis- und Erlebnispädagogen.